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Zuletzt angepasst am 26.03.2024

Reflektorische Atemtherapie: Warum und bei wem wird sie eingesetzt?

Einleitung

Die Wurzeln der Reflektorischen Atemtherapie, so wie sie heute gelehrt und von zahlreichen Physiotherapeuten praktiziert wird, liegen in dem ganzheitlichen Behandlungskonzept, das Dr. med. Johannes Ludwig Schmitt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als niedergelassener Arzt in München entwickelt hat.

In Dr. Schmitts Lebenswerk, dem Buch „Atemheilkunst“, wird dieses Konzept aufgezeigt. Ein Teil des Konzeptes wurde als „Atemmassage“ bekannt. Ab den 1950er Jahren wandelte sich die „Atemmassage“ in Zusammenarbeit mit der Krankengymnastin Liselotte Brüne zu einer eigenständigen physiotherapeutischen Technik. Nach dem Tode Dr. Schmitts im Jahre 1963 führte Liselotte Brüne die Arbeit mit der Reflektorischen Atemtherapie nicht nur fort, sondern entwickelte diese fortwährend weiter.

Dr. Schmitt hat sich in seiner Arbeit als Arzt für Naturheilverfahren in besonderem Maße mit der Atmung auseinandergesetzt. In seinem 1956 herausgegebenen Buch „Atemheilkunst“ zeigt Dr. Schmitt die Sonderstellung der Atmung gegenüber allen anderen unbewusst-vegetativen also „selbstverständlichen“ Organfunktionen auf. Die Atmung – teils unbewusst, teils bewusst – beeinflusst weitreichend die körperlichen Funktionen sowie das seelisch-geistige Befinden.

Warum Reflektorische Atemtherapie? Was ist anders?

Dr. Johannes Ludwig Schmitt hat sich in seiner Arbeit als Naturheilmediziner - seiner Zeit voraus – dem ganzheitlichen Behandlungskonzept verschrieben. Neben der Atemtherapie gehörten die Homöopathie, Kneipp'sche Anwendungen, asiatische Heilmethoden, die Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) und Yoga zu diesem Konzept. Atmung, Haltung, Bewegung und Ernährung waren für ihn Vorgänge, die zueinander gehören, einander bedingen. Körper und Seele bildeten für ihn eine untrennbare Einheit. Mit dem Begriff „Psychosomatik“ wird heute aufgezeigt, dass seelisch-geistige Störungen sich körperlich zeigen und manifestieren können.

Da all diese Erkenntnisse in der Technik der Reflektorischen Atemtherapie umgesetzt sind, behandelt man damit also immer die gesamte Person, d. h. den Menschen in der Einheit von Körper und Seele und spricht von einer ganzheitlichen Therapie.

Ziele der Reflektorischen Atemtherapie

Dr. med. Schmitt legte in seiner Arbeit großen Wert auf die Kräftigung des Zwerchfells (Diaphragma) und die optimale Beweglichkeit der knöchernen Strukturen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der „Atempumpe“ zu nennen. Die Atempumpe umfasst die Atemmuskulatur, d. h. das Zwerchfell (Diaphragma) und die Intercostalmuskulatur (Zwischenrippenmuskeln), die Atemhilfsmuskulatur, die Skelettanteile (knöchernen Strukturen) des Brustkorbs und das dazugehörige Nervensystem.

Das Zwerchfell als Hauptatemmuskel hat die Funktion, bei der Einatmung die Lunge zu entfalten, so dass Luft in die Lunge eintritt und der Gasaustausch stattfinden kann. Während dieser Aktivität wird das venöse, abdominale Blut aus dem Bauchraum in den Thorax gesaugt.

Die Ausatmung erfolgt passiv. Die gedehnten elastischen Gewebe der Lunge schnellen wieder in die Ausgangsstellung zurück. Das Zwerchfell entspannt sich langsam. So entweicht die Luft langsam aus der Lunge. Dieser Vorgang kann durch den aktiven Einsatz der Atempumpe während der Exspiration (Ausatmung) verstärkt werden.

Das wichtigste und erste Ziel der Reflektorischen Atemtherapie liegt also darin, das Zwerchfell in seiner Funktion zu unterstützen und anzuregen, um so die physiologische Atembewegung zu stimulieren.

Dahinter steckt die Erfahrung, dass viele Menschen mit Erkrankungen von Lunge und Atemwegen effektive Unterstützung erfahren, wenn der Atemablauf möglichst störungsfrei verlaufen kann und die anatomischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.

Der Begriff Reflektorische Atemtherapie vermittelt zunächst den Eindruck, dass lediglich Patienten mit Atemwegserkrankungen damit behandelt werden können. Für die Reflektorische Atemtherapie ist dies zu kurz gegriffen und daher nicht zutreffend.

Das „reflektorisch“ ist hier bezeichnend: Die Reflektorische Atemtherapie nutzt das „System Atmung“ zur Regulierung der psychophysischen Zusammenhänge.

Die Reflektorische Atemtherapie als ganzheitliche Therapie umfasst jedoch weit mehr Ziele. So werden – neben dem Zwerchfell - die genannten Strukturen der Atempumpe als funktionelle Einheit mobilisiert, aktiviert und weitestgehend reguliert.

Des Weiteren nimmt die Therapie Einfluss auf die Regulation des Herz-/Kreislaufsystems, des vegetativen Nervensystems, des Immunsystems und der Gelenkstrukturen. Über die Haut und das Bindegewebe, die über Reflexzonen mit den Organen verbunden sind, nimmt die Therapie Einfluss auf andere Organsysteme, z.B. Leber und Galle, Magen und Darm.

Bereits während der Therapie erlebt und erfährt der Patient durch die vom Therapeuten am ganzen Körper gesetzten Reize Veränderungen des körperlichen Befindens und der Atmung. Der Patient nimmt seinen Körper und die Atmung bewusster und differenzierter wahr.

Das bedeutet, dass mit der Therapie auch körperpsychotherapeutisch gearbeitet werden kann oder im Rahmen der Körperarbeit im passiv-aktiven Erleben des eigenen Körpers die Körperwahrnehmung geschult wird. Die Reflektorische Atemtherapie arbeitet also auch mit der Reaktion des Körpers auf gesetzte Reize; kognitive Fähigkeiten der bewussten Wahrnehmung sind hilfreich, aber für den Behandlungserfolg nicht notwendig. So wird die Behandlung von z. B. intensiv-pflichtigen Patienten, von „Frühchen“ , Säuglingen, Patienten in der Geriatrie und auch von dementen Patienten möglich.

Aufgrund der Vielschichtigkeit der Technik sind die Behandlungen mit der Reflektorischen Atemtherapie individuell auf den Patienten abgestimmt und werden immer an die gegebene Situation angepasst.

Verwirklichung der Therapie

Die Reflektorische Atemtherapie setzt sich aus drei Behandlungsmaßnahmen zusammen:
1. die Wärmeanwendung „Heiße Kompressen/auch heisse Rolle genannt
2. die manuellen Techniken
3. die Atemgymnastik oder therapeutischen Körperstellungen

Behandlungsgrundlagen

Im Rahmen der Therapie werden die angewandten Techniken immer direkt auf der Haut und den darunterliegenden Strukturen vorgenommen. Der Patient ist also während der Behandlung bis auf die Unterhose entkleidet.

Die Ausgangsstellungen während der Behandlung richten sich nach der Art der Erkran-kung und den Möglichkeiten des Patienten, bestimmte Körperstellungen einzunehmen. So kann in Bauch-, Rücken-, Seitenlage oder im Sitz therapiert werden. Die Lagerung wird an die Erfordernisse individuell angepasst, so dass der Patient Gewicht abgeben und sich entspannen kann.

Mit den „Heißen Kompressen“ beginnt in der Regel die Behandlung. Der Therapeut nutzt sie, um den Patienten zu entspannen und gleichzeitig das Gewebe durch die Wärme auf die manuellen Techniken vorzubereiten. Außerdem werden parallel zur Wärme noch Dehnungen und Lösungsgriffe gesetzt.
Mittels der „Heißen Kompressen“ wird ein Atemreiz gesetzt, der sich auf die Atem-bewegung auswirkt, Durchblutung und Stoffwechsel werden angeregt und durch die Wärme die muskuläre Spannung des Rumpfes reguliert. Bei Patienten mit starker Sekret¬bildung kann durch die feuchte Wärme das Sekret in den Lungen gelöst werden.

Mit den manuellen Techniken werden die Strukturen des gesamten Körpers beeinflusst. Mit der spezifischen Art des Anfassens löst der Therapeut Strukturen, setzt Reize auf der Haut und dem Bindegewebe, mobilisiert gelenkige Verbindungen, dehnt Muskulatur quer und längs und löst Faszien. Dem Therapeuten stehen eine Vielzahl von Grifftechniken zur Verfügung, die in der Ausatemphase - oft mit einleitenden und dehnenden Streichungen - beginnen. Die Grifftechniken variieren in ihrer Art und Reizstärke je nach Reaktion des Patienten, d. h. die Vorgehensweise und Gestaltung der Behandlung orientiert sich an der Zwerchfellreaktion und des Atemverlaufs. So ist es dem Behandler während der Therapie möglich, aktivierend bis beruhigend zu wirken, wobei eine Reizstärke von Streichungen bis hin zu Schmerzempfindungen möglich ist. Dabei gilt es zu beachten, dass zu schwache Reize keine oder nur wenige Reaktionen hervorrufen und zu starke Reize die Reaktionen blockieren. Der Therapeut beobachtet also aufmerksam die Reaktionen, setzt Atempausen nach den getätigten Reizen und stimmt die nächsten Grifftechniken daraufhin ab. Während der Behandlung wird der Patient nur in Ausnahmefällen zum bewussten Ein- oder/und Ausatmen aufgefordert.

Nun schließen sich, wenn es hilfreich und möglich ist, die Atemgymnastik bzw. die therapeutischen Körperstellungen an. Bei den aus dem Yoga stammenden Stellungen oder Übungen geht es um die reflektorische Nachatmung. Sie fördern den komplexen Atemablauf, dehnen, kräftigen, fordern und fördern die Ausdauer und das Gleichgewicht. Die Übungen können im Schwierigkeitsgrad jedem Patienten angepasst werden. Bei bewusster Ausführung setzt während der Nachatmung eine vegetative Entspannung ein. Therapeut und Patient erarbeiten das häusliche Übungsprogramm gemeinsam. So über¬nimmt der Patient auch Selbstverantwortung für den Therapieerfolg.

Anwendungsgebiete der Reflektorischen Atemtherapie

Aufgrund der Vielfältigkeit und des ganzheitlichen Konzepts kann die Reflektorische Atemtherapie bei allen Störungen der Atmung eingesetzt werden. Sie wird bei allen obstruktiven Ventilationsstörungen, wie dem Asthma bronchiale, dem Lungenemphysem, der COPD, der chronischen Bronchitis und der Zystischen Fibrose angewandt.

Restriktive Ventilationsstörungen (besonders bei verminderter Thoraxdehnbarkeit), wie Skoliosen, Trichterbrust, Morbus Bechterew, Pleuraverschwartungen, der Lungenfibrose und starken Muskelverspannungen können ebenfalls damit behandelt werden.

Die Behandlung vor oder nach Transplantationen, nach Lungenoperationen oder bei Pneumonien bietet sich ebenfalls an.

Störungen des Bewegungsapparates, besonders der Wirbelsäule, können gut behandelt werden. Hiervon profitieren Patienten mit degenerativen und rheumatischen Erkrankungen, wie Morbus Scheuermann, Lumbalgien, Ischialgien, Erkrankungen der großen und kleinen Gelenkstrukturen, z.B. der Hüfte und Schulter.

Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems profitieren ebenfalls von der Behandlung, so zum Beispiel bei der Amytrophen Lateralsklerose, Morbus Parkinson.

Über die reflektorische Wirkung auf das vegetative Nervensystem hat man einen guten Zugang zu Somatoform Autonomen Funktionsstörungen. Das sind die Erkrankungsformen, die früher mit „nervösem Magen-Darm“ oder „Herzneurose“ bezeichnet wurden. Die vegetativen Dysregulationen des Kreislaufs z.B. Bluthochdruck, die Obstipation (Verstopfung) oder der Roemheld-Symptomenkomplex mit dem Zwerchfellhochstand, bieten sich ebenfalls zur Behandlung an. Für die Behandlung ist es dabei unerheblich, ob sich die Störungen im Respirations- oder Verdauungstrakt, im kardiovaskulären oder urogenitalen System manifestieren.

Aufgrund des bei der Reflektorischen Atemtherapie eingesetzten ganzheitlichen Konzeptes findet die Therapie auch den Zugang zu den Patienten mit psychischen Störungen, wie z B. leichten depressiven und neurotischen Formen. Die Atemtherapie dient als Zusatz zur Psychotherapie und Körperpsychotherapie. Menschen mit Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Angst- und Schlafstörungen profitieren davon. Dabei ist es wichtig, dass der Patient bereit ist, sich mit den Störungen auseinanderzusetzen und – wenn nötig – psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Welche Einschränkungen gibt es bei dem Einsatz der Reflektorischen Atemtherapie?

Die Reflektorische Atemtherapie darf bei akuten Infektionskrankheiten mit sehr hohem Fieber über 40 ° C nicht angewandt werden. Bei Menschen mit Neuritiden (Nervenentzündung) ist die Behandlung eher kontraproduktiv. Oft ist direkt nach der Behandlung eine Besserung zu verzeichnen, jedoch verschlechtert sich der Zustand wegen der fehlenden adäquaten nervalen Leitung kurze Zeit danach wieder rapide.

Menschen mit schweren Psychosen oder manischen Depressionen (bipolaren Erkrankungen) sollten nicht behandelt werden. Die Reaktionen dieser Patienten sind nicht abzuschätzen.

Bei einigen Erkrankungen muss individuell entschieden werden, ob und in welchem Umfang die Reflektorische Atemtherapie angewandt wird. So müssen ggf. bei Hauterkrankungen Areale ausgelassen werden, das gleiche gilt für Patienten nach Bestrahlungen. Bei der Osteoporose werden lediglich die manuellen Grifftechniken modifiziert also angepasst.

Kombination mit anderen Therapien

Die Reflektorische Atemtherapie wird in der Regel einmal wöchentlich angewandt. Die Kombination mit anderen Therapien ist daher empfehlens- und wünschenswert. Aufgrund ihrer intensiven Wirkung unterstützt sie die anderen Therapieformen, ob atemtherapeutisch, neurologisch, orthopädisch oder in anderen Bereichen.

Margarete Rys, Lehrtherapeutin Verein für Reflektorische Atemtherapie e.V., Symposium Lunge in Hattingen

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